GESCHICHTEN DIE DAS LEBEN SCHREIBT…

MALWIDA VON MEYSENBUG
oder
GESCHICHTEN DIE DAS LEBEN SCHREIBT…

sie tauchen auf – unerwartet – aus dem vollen leben heraus
die geschichte geht so

heute früh erhielt ich ein kleines paket
es war gut gepolstert und fühlte sich weich an
der inhalt war in eine dicke hülle von zeitungspapier eingewickelt
und verklebt
ich erwartete den inhalt
2 antiquarische bücher von
MALWIDA VON MEYSENBUG
MEMOIREN EINER IDEALISTIN
1. Band
2. Band

erscheinungsjahr geschätzt 1949

ich habe die bücher in einem antiquariat bestellt, obwohl ich den ersten band bereits besitze, aufgrund der äusseren sehr ansprechenden aufmachung, chamoire mit weinrotem lederrücken und goldprägung und wie neu. bücher, dessen äussere aufmachung mich lockt und deren inhalt mich brennend interessiert – keine chance zu widerstehn.

also, es ist für mich ein kostbarer paketinhalt und als ob die versenderin das ahnte, hat sie es wie ein wertvolles eingeschnürt. mein lob wird sie dafür erhalten.

die gute verklebung, die auch noch das äussere des dickgepolsterten briefumschlags verziert, ist mühsam zu entfernen. die schichten des zeitungspapiers untersuche ich auf interessante artikel.
dann die bücher – eines nach dem anderen ziehe ich heraus, jedes für sich auch noch einmal dick verpackt und verklebt.
sie sind in einem tadellosen zustand und ich bin begeistert.

soweit ist alles, wie ich es hätte erwarten können.
vorsichtig schlage ich den 1. band auf und finde die widmung

„Möchten die Memoiren einer Idealistin meiner lieben Mutti Grone viele Stunden tiefen und nachhaltigen Erlebens bereiten.
Das ist mein Weihnachtswunsch
1949
Ihre Elvira“

und nun bekomme ich diesen weihnachtswunsch und die bücher 63 jahre später zugeschickt,
so als wären sie für mich eigens erkoren. ich benutze diesen alten ausdruck mit bedacht.

da wusste eine frau so kurz nach dem krieg, wer MALWIDA VON MEYSENBUG war. das erstaunt mich. war sie zu der zeit noch mehr im bewusstsein der frauen als heute. diese elvira musste es genau gewusst haben, das buch oder die bücher kennen, sonst hätte sie nicht „Stunden tiefen und nachhaltigen Erlebens“ wünschen können.

mein erleben steigert sich noch.
auf der nächsten seite des ersten bandes liegt fein ordentlich und säuberlich ein briefumschlag mit der anschrift

Frau Hede Grode
(24) Ahrensburg bei Hamburg
Parkallee 15

die absenderin

Elvira Rackow
196 Quedlinburg
Queringer Str. 8

der briefumschlag ist geöffnet. ich entnehme ihm ganz vorsichtig eine briefkarte und weiss nicht, wie ich mich fühlen soll, so als ob ich in etwas eingeweiht werde, oder wie eine schnüfflerin, die das ganze garnichts angeht.

ich beginne zu lesen, was sich sehr schwierig gestaltet. die deutsche schrift (sütterlin) habe ich nur kurz als kind in der grundschule erlernt und inzwischen wieder fast vergessen. so viel kann ich erraten, dass es um eine sehr persönliche sache ging.

auch muss ich erst noch begreifen, was mir da so besonders erscheint. erschienen ist es mir, wie eine weihnachtsmär besonderer art. die intimität eines briefes nach 62 jahren von zwei mir unbekannten frauen – das lesen rückt sie mir näher, fast nah, als hätte ich sie gekannt. eine handschrift ist heutzutage schon etwas sehr intimes und zumal so akkurat (auch den ausdruck verwendet man heute nicht mehr oder selten).
so überrascht, fotografiere ich den vorgang erst einmal, was u. a. heisst, dass ich die karte im mac nun vergrössern und besser entziffern kann.
es geht um eine wichtige sache, in die ich da eingeweiht werde. ich nehme sie, als hätte sie sich heute zugetragen.

Quedlinburg 3.2.1950.

Elvira Rackow

Meine herzliebe, gute Mutti!
Seien Sie innigst bedankt für Ihren entzük-
kenden herzlichen, ausführlichen Brief vom 30.1.
der mich nicht nur erfreut, sondern sehr beglückt
hat. Er trug den Poststempel vom 31.1.50 – 14 uhr
und landete bereits am 2. Februar bei mir. Die
Post hatte es abermals sehr eilig, mir Ihre so lieben
Nachrichten zu übermitteln. Am gleichen Tage
ging auch ein kurzer Gruß von mir an Sie
ab. Mutti, sie sind ein furchtbar lieber
Kerl, das habe ich mal wieder so tiefinnerlich
bei mir festgestellt – Ich muss sagen, dass ich
mich von ganzem Herzen für sie gefreut
habe, dass sie unseren Jungen doch noch einige
Stunden so restlos bei sich haben konnten, um
für ihn zu sorgen. Nach all dem Kummer,
den … der abgelaufenen Wochen mit
ihm hatten, war es eine kleine Entschädigung,
die Sie mehr als verdient haben. Hoffentlich waren
es dann wirklich ungetrübt schöne Stunden.

Den Vorschlag, den ich Ihnen bezüglich unseres Jungen
machen wollte, besteht darin, dass ich es für ….
möglich halte, dass wir beide den gesamten Briefwech-
sel, den wir in der bewussten Sache
miteinander führten, vernichten wollen,
sofern es nicht schon geschehen ist. Zu leicht kommt
ein falsches Schreiben … in falsche Hände, und
dann ist das Theater da. Wie wäre es, wenn wir
ihm in unsere geschäftlichen Mitteilungen
einen anderen Namen zulegen würden. Er wird
doch wahrscheinlich in Zukunft häufiger ihr Gast sein,
wenn er beruflich kommt, und da könnte ein
Zufall ihm mal ein Brief in ein …..
das muss vermieden werden, da es von …
fast unmöglich ist. bitte, Muttilein. Nehmen
sie gelegentlich Stellung zu dieser Frage.
dieses ist auch ein …kärtchen, aber im
liebsten Sinne. Es sollte ihnen nur schnell
sagen, wie sehr ich mich gefreut habe über Ihre
herzlichen Zeilen. Eine ausführliche Antwort
kommt in 8 bis 10 Tagen. Vorher werde ich kaum
zu einem ausführlichen Briefe kommen. Dann
gehe ich…
… – Mutti, ich muss Sie … umarmen,
weil es mich einfach dazu drängt.
Ihre Elvira

und nun sitze ich da mit meinen überraschungen und kann erstmal überhaupt nicht zu den aufzeichnungen von malwida von meysenbug umschwenken.

sogar die briefmarken ziehen mich in bann und bringen mich zum nachdenken.
halberstadt – wo um himmelswillen liegt halberstadt und wo quedlinburg. wer war dieser ernst thälmann. na gut, ich werde alles im internet nachschauen.
und 24 – was bitte – pfennige wohl.
heute kostet das buchpaket 410 – auch was bitte – cent, oder 4 euro 10. was für ein sprung, was für eine geschichte liegt zwischen diesen beiden zahlen, zwischen diesen jahren.

und wer MALWIDA VON MEYSENBUG war, bleibt auch zu klären.
soviel – sie ist 1816 in kassel geboren und eine sehr resolute, intelligente frauenrechtlerin, künstlerin, schriftstellerin u. u. u….
ein andermal mehr.


MALWIDA VON MEYSSENBUG

5 thoughts on “GESCHICHTEN DIE DAS LEBEN SCHREIBT…

  1. Das ist eine wunderbare Weihnachtsgeschichte. Unglaublich und wahr zugleich – ja, so sind sie, die Wunder!

    Liebe Grüsse,
    Brigitte

  2. ja
    eine wunderbare geschichte
    aber das geheimnis
    es stand ja nicht drin
    das wollten sie doch verbrennen

    wäre schon interessant zu wissen
    was in der zeit nicht ans licht kommen sollte…

    euch danke
    rosadora

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