zwei tage nach seinem geburtstag – er wäre 128 jahre – zieht es mich hinaus. es ist das hineinspüren, was einer empfindet bei seinen langen wanderungen, von denen er nicht ablässt, nicht ablassen kann, über all die jahre. das ganze jahr über fühlt er sich verpflichtet der natur, die ihn hält, die ihn lieben lässt, leben lässt, in die er sich einfügt ein leben lang, die ihm anstoss ist zu seinen texten, er ‚entfernt’ sich von seinen mitinsassen tagtäglich in der mittagszeit, an sonn- und feiertagen, an denen er nicht arbeiten muss, um danach zu ihnen zurückzukehren – eine pflicht, die er nicht verletzen will.
heute ist es zum erstenmal so richtig grün in diesem jahr. robert walsers geburtstag war milde, so recht frühlingshaft. die hoffnung für alles werdende keimt auf und nicht zuletzt für die eigenen vorhaben, die im winter nicht so recht gedeihen. ich picke die sätze am weg heraus, notiere sie mit der kamera und später im pc, versuche sie für mich zu erklären und die bedeutungen herauszufinden, die sie einst robert walser und nun mir sein könnten.
wegweiser zum robert walser-pfad
dieser spaziergang ist robert walser gewidmet.
dreizehn stationen mit zitaten aus seinen werken markieren den letzten gang des dichters. er verstarb am weihnachtstag 1956 bei der wachtenegg, hier in herisau. ‚derart also ging ich von menschen fort. ‚es schneite… und durch das und durch das liebe dichte schneien klangen die abendglocken‘.
robert walser, bürger von teufen, wurde 1878 in biel geboren. nach einer banklehre entschied er sich früh zur existenz als dichter.
häufiger stellen- und adressenwechsel. von 1905 bis 1913 lebte walser in berlin, wo unter anderem drei romane entstanden. dann sieben jahre lang poet in biel, dem ‚prosastrückligeschäft‘ hingegeben. publikation verschiedener bücher. 1921 übersiedlung nach bern. fieberhafte schreibtätigkeit.
zunehmende verfinsterung. ‚mikrogramme‘ entstehen, in winziger schrift. bis heute nur teilweise entziffert.
‚niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.‘
nach einem aufenthalt in waldau kommt robert walser nach herisau in die heil- und pflegeanstalt, wo er die letzten 23 jahre seines lebens als unauffälliger insasse verbringt.
er schreibt nicht mehr. ‚ich bin klug genug, eines tages hier im lande mit anstand zu sterben.‘
trotz der renaissance seiner schriften und dem ruf, einer der wichtigsten deutschsprachigen dichter des zwanzigsten jahrhunderts zu sein, bleibt robert walser, was er war: ein bekannter unbekannter.
ich bin vollständig gesund und zugleich
sehr ernstlich oder erheblich krank.
wer in die seltsamkeiten hineingegangen ist,
den nehmen sie und führen ihn
mit regierenden händen, reissen ihn fort,
lassen ihn nicht wieder los.
vielleicht besteht meine krankheit,
falls ich meinen zustand so nennen kann,
in einem zu vielen liebhaben.
dass sich in einem von haus aus ernsten
Menschen etwas wie eine heimliche tragödie abspielte,
schien niemand notieren zu wollen,
und so achtete kein mensch auf die, wie man sagen möchte,
in jeder art und weise bizarre oder elegante zerstörung der seele.
das wahre gesundsein gipfelt in einem sichwillkommmenheissen.
die krankheit ‚zu viel liebbhaben’ – wie schnell kann da der zustand des sichkrankfühlens auftreten bei vollkommener gesundheit.
wie verletzbar ist jemand, der liebt. dass das wahre gesundsein in einem sichwillkommenheissen gipfelt – wem das ohne therapeutischen beistand gelingt, ist ein künstler, ein lebenskünstler und nicht so einfach zu erreichen. sich wilkommenheissen heisst ja, sich annehmen, sich so zu akzeptieren, wie man ist. das ist eine schwierige sache, die immer wieder misslingt, bei dem einen mehr, dem anderen weniger. und wo ist da die grenze, dass es gelingt oder nicht. es ist so sehr abhängig von den mächtigen, die es zu verstehen glauben, die nach einem greifen, aus dessen klauen einer nicht mehr kommt, und die bestimmen, wie seltsam die seltsamkeiten sind, in die einer gegangen ist.
seltsam rührt es mich mit meinen seltsamkeiten an, diese seltsamkeiten benannt zu wissen von einem seltsamen menschen, mich seltsamerweise frei bewegen zu können, meiner seltsamkeiten ungeachtet und unbeachtet. das wort seltsamkeiten – das so viel seltsames enthält, so viele geheimnisse, so viele möglichkeiten auch, das mir wie der anfang jedes neuen beginnens scheint, wo alles erst einmal seltsam scheint, sobald es den schein der schönen dinge und sätze und menschen verlässt.
das bisherige versperrt dem kommenden den weg.
die gegenwart ist die zukunft.
die ziele sind am ehesten auffindbar,
wenn man gar nicht an sie denkt.
dass das bisherige dem kommenden den weg versperren soll, da muss unsereine erst einmal sortieren, was dann mit dem bisherigen, dem vergangenen, der vergangenheit, an der wir so gern kleben, werden soll. da fällt mir ein, dass ich schon immer unbehagen empfinde, wenn ich immerzu nach meinen wurzeln schauen soll. so wenig, wie ich finde, dass das geht, würde bei dem ewigen schauen nach unten, denn da sind ja die wurzeln, der himmel seine irritation anmelden insofern, als er mein gesicht und meine aufrichtigkeit nicht recht sehen kann. ja, es ist schwierig, dieses eingespanntsein zwischen oben und unten auszuhalten, vom ertragen gar nicht zu reden. der erde kann ich so wenig entkommen wie dem himmel. sie gewähren mir ein leben unter ihnen, das oft wie ein geschenk, oft wie ein fluch erscheint. wo kann ich mein befinden da einpendeln. manchmal ist die pein grösser als die freude, wenig oft genug lässt die freude das vergessen.
leben und jede minute geniessen – wer das könnte…
möge es gut kommen bei unserer nichtwissenheit, möge das gute uns tragen durch das oben und unten, das oben uns aufrichten, so lange, bis das unten uns erwartet, uns empfängt und umschliesst und wieder entlässt, wohin auch immer…
müssen wir nicht fühlen,
eh‘ wir verständigt werden?
verstand allein tut‘s nicht;
wie oft ist er unvernünftig.
wenn man nur recht weiss,
wie wenig man weiss,
kann es noch gut kommen.
robert walsers ‚grün’ – etwas lassen die wiesen zuerst von seinem unbehagen spüren, man sagt ja nicht umsonst ‚giftgrün’ und so sehr es erfreut, beisst es doch schon in den augen, besonders, wenn die sonne herauskommt. auch die empfindungen im herz sind ganz überwältigend. im schatten ist es noch satt, das frühlingsgrün, und wohltuend, die seele einschmeichelnd.
herisau liegt wie in einem grünen nest. es fügt sich gut ein zwischen den hügeln. wie sollte es sein, wie immer, ist im schönen ein fleck. die industrie, ausladend wie ein schleichendes verbrechen, verhunzt das ganze. robert walsers augen blieben davon noch verschont. noch tiefer als der anblick des krassen grüns ist der der industriesünde. könnte ich einen radiergummi nehmen und sie ausradieren…
diesen weg, den er oft ging, wenn er von seinen mittagsspaziergängen wieder ‚heimkehrte’ in seine ‚anstalt’.
ach was.
jetzt will ich an gar nichts mehr denken.
auch an gott nicht?
nein! gott wird mit mir sein.
gott geht mit den gedankenlosen.
man muss nicht hinter alle geheimnisse
kommen wollen.
gedankenlos gehen – auch so eine schwierigkeit – das rad im kopf anhalten. immerzu denkt es. es denkt so oft das, was man gar nicht will. die schönen gedanken streiten mit den quälenden – welche werden gewinnen – oder vermischen sie sich? die wenigen ruhigen stunden sind meistens dem schlaf vorbehalten. spazieren und ruhe halten, das ist unmöglich. die reize ringsherum vermögen vielleicht von dem drang, hinter die geheimnisse kommen zu wollen, ablenken. aber wie lange hält das an? mit dem ende des laufens ergiessen auch die gedanken wieder ihre eigenen bäche und flüsse und zuweilen sturzbäche.
wer viel denkt, macht sich unbeliebt.
aufrichtig sein ist selten anständig.
man ist immer unartig,
wenn man die wahrheit sagt.
die eigenen erfahrungen sprechen davon. jemandem die wahrheit (ins gesicht) sagen, das ist wie lügen. ‚insgesichtsagen’ deutet die konfrontation an, in die sich einer gebracht fühlt. sag nicht ‚rot’, sag lieber ‚fast wie rot’, das lässt einen spielraum für die wahrnehmungen des anderen. beharre nicht auf dem, was du denkst, es könnte ja auch ganz anders sein.
aber so schleimscheisserisch kann man sich in seiner eigenen haut ja nicht wohfühlen. ein wahrheitsliebender mensch zu sein, darum bemüht man sich doch zuallermeist – selbst, wenn man dann immer noch nicht die wahrheit sagt…
es ist so süss zu bleiben.
geht denn die natur etwa ins ausland?
wandern bäume, um sich anderswo
grünere blätter anzuschaffen?
die natur braucht sich nicht anzustrengen
bedeutend zu sein.
sie ist es.
ja, wir gehen ins ausland, wieder und immer wieder.
deshalb müssen wir uns ja so anstrengen, weil wir unbedeutend sind, weil es unbedeutend ist, wo wir uns aufhalten, überall wollen wir sein und sind doch nirgends.
der bedeutenden natur überall begegnen zu wollen ist wie ihr gar nicht zu begegnen. wir bleiben an der oberfläche, vermeiden es einzutauchen, vermeiden auch uns in die tiefe zu neigen. wir würden steckenbleiben können, hängenbleiben an einem ort vielleicht, wo wir doch weiter müssen, immer weiter…
was wir verstehen und lieben,
versteht und liebt uns auch.
wer nicht liebt, hat kein dasein,
ist nicht da, ist gestorben.
ohne liebe ist der mensch verloren.
deshalb verstehen wir auch nicht, deshalb werden wir auch nicht geliebt, deshalb gehen wir verloren in der weite der landschaften, die wir eh schon zerstört haben im grossen und ganzen.
deshalb werden wir nie wirklich mensch.
bleiben, wie die bäume, fest in der erde
und die landschaft zöge
an uns vorbei…
ich kam in diesen wald hinein,
und kann nun nicht aus ihm heraus,
mit meiner ruhe ist es aus.
der sonnenschein hängt gelb darin,
erregt sind mir gefühl und sinn.
mir ist die ganze welt jetzt tot,
da ausser hier kein ort mehr ist, der atmet.
des empfindens list – ich bin in diesen wald verliebt.
mein herz ist tausendfach zerstückt.
habe ich blumen gepflückt,
um sie auf mein unglück zu legen?
in diesen wald verliebt, selbst auf die gefahr hin, dass mein herz ‚zerstückt’ würde, ich mich nicht mehr herausnehmen könnte aus diesem zustand und dem wald.
wald, der schützend umgibt. wald, im aussen sein und doch innen. draussen und gleichzeitig drinnen – ausserhalb der gesellschaft, aber so ganz in mir sein und mich geborgen fühlen, wo ich ‚blumen pflücken’ kann, ‚um sie auf mein unglück zu legen’. tat ich das? wenigstens das. das unglück wäre viel weniger unglück und die blumen reichten bis an mein herz.
die phantasie erlöst uns,
und der traum ist unser befreier.
der schlaf hat innere augen.
wichtig ist nur die reise zu
sich selbst.
die fantasiebegabte fantasie, sie soll alles richten. es gibt nicht wirklich eine garantie dafür, dass uns die fantasie erhalten bleibt. menschen mit fantasie sind nur bedingt beliebt, soweit sie sich auf dem terrain der nützlichkeit bewegen. darüber hinaus sind sie weiterhin gefährdet. den mächtigen ist der zugriff auf alles möglich. dann bleibt nur noch der schlaf und selbst den können sie uns rauben. na, dann der ewige schlaf, und dann ist wirklich ruhe. die reise zu sich selbst ist im transzendenten nicht vorgesehen. walser hatte noch süsse träume…
der krieg ist eine missgeburt,
halb mädchen, halb mann,
halb störender und halb gestörter,
und er läuft erschrocken
unter uns herum,
über sich selbst entsetzt
wie ein
hunderttausend jahre altes
schmerzenskind.
das ‚schmerzenskind’ – es läuft irritierter herum denn je.
es gibt also keine hoffnung, dass diese krankheit ‚krieg’ je einmal geheilt werden könnte. es ist nicht einmal mehr entsetzt über sich selbst, das schmerzenskind. die menschen leiden weiterhin an den schmerzen ihrer eigenen unzulänglichkeiten.
unsere zeit ist grausam
mit ihrem nützlichkeitsdenken.
das edle und schöne
muss sich dem mechanismus einordnen,
sonst stirbt es.
vielleicht war das immer so.
es kann sein, dass uns die vergangenheit
manchmal nur allzu schön vorkommt.
ich halte genauigkeit für poetisch.
hier halte ich mich an dem satz der genauigkeit fest.
das nützlichkeitsdenken ist ins wuchern geraten, den menschen ist das edle nicht mehr edel und das schöne nicht mehr schön. die begriffe haben sich abgenutzt, verschoben ins entsetzliche. nichts ist mehr genau, alles ist nur noch flüchtig und billig. die erinnerungen täuschen nicht nur. es ist eine tatsache, dass es schon mal besser war. die unbotmässigkeit war noch nie so im überhange. keine zeit für dichter- und denkerinnen!
leben und sterben, beginnen und endigen
liegen freundschaftlich beisammen.
neben dem kreise steht das kind.
blühen und welken umarmen einander.
der ursprung küsst den fortgang.
anfang und abschluss
geben einander lächelnd die hand.
erscheinen und verschwinden sind ein einziges.
keiner lehrt uns besser als die natur, wie nahe leben und sterben beieinander liegen, keiner kann uns besser erklären, dass das so richtig ist und freundschaftlich beieinander. um das so sehen zu können, bedarf es eines langen umgehens mit der natur, um die erfahrung machen zu dürfen – zu dürfen – sich unsere schrecken dann nicht mehr ins unermessliche dehnen. wie in einem kreis liegen anfang und ende ineinander. wir enden da, wo wir begonnen haben. das blühen und das welken bedingen einander.
genau hier begann ich vor 5 jahren meinen robert walser-spaziergang, am 25. dezember, ohne zu wissen, dass es der platz war, den er sich ausgesucht hatte, um mit dem schnee zu verschmelzen, mit der natur eins zu werden, ohne zu wissen, dass der 25, dezember sein todestag war.
wenn ich heute hier gehe, kann ich mir die zeit, die zwischen seinem sterben und heute liegt, kaum vorstellen. es ist mir gegenwärtig als wäre es jetzt geschehen.
ERSCHEINEN UND VERSCHWINDEN SIND EIN EINZIGES…
Ich freue mich sehr den Text Auf Robert Walsers Spuren gefunden zu haben. Ich mag ihn gern, da er mir hilft die Realität zu überstehen da es mich tröstet dass er Dinge ähnlich sah.
Mit herzlichen Grüßen
Klaus Dronigke
Danke für dieses Arrangement…
Für mich ist Robert Walser auch ein Mystiker…
Habe mir schon vor Jahren die Erlaubnis eingeholt, bei der „obersten“ Station meine Asche hinterlegen zu dürfen…
Können Sie mir die Quelle nennen, wo das Gedicht, es ist so süß zu bleiben, veröffentlicht ist? Vielen Dank