zum 100sten geburtstag

‚zum andenken an eine seltene frau’. als ich den herabgestürzten grabbogen auf dem jüdischen friedhof in hamburg ohlsdorf fotografierte, wusste ich mit diesem begriff der ‚seltenen frau’ nicht recht etwas anzufangen.

wenn ich das leben und werk gisèle freunds, der künstlerin, fotografin, soziologin, reporterin, kritikerin, u. u. u. betrachte, habe ich eine ahnung, was es sein könnte, eine ‚seltene frau’ gewesen zu sein. ihr leben erklärt mir, was das gewesen sein könnte. gisèle freund sucht ihres gleichen, war einzig, war gegen konventionen und widersprach dem angepassten lebensstil. sie war kritisch mit offenen augen. das war zu ihrer zeit nicht überall gern gesehen und oft nicht geduldet.

vor den nazis floh sie nach frankreich, nach argentinien. die gönnerinnen der gisèle freund waren einflussreiche frauen. als sie nach paris kam, lernte sie die verlegerin adrienne monnier kennen. durch sie knüpfte gisele freund kontakte zu schriftstellerinnen, künstlerinnen und intellektuellen – und porträtierte sie.

vielleicht sind ihre portraits deshalb so ausdrucksstark, weil sie den schwerpunkt nicht darauf legte, kunst hervorzubringen, in dem sinne, dass fotos brilliant sein müssen, gestilt und einiges mehr. sie er-kennt die menschen in ihren wesen, stellt nähe her und vertrautheit, der den blick in intimste situationen zulässt.

ihre bilder stellen einen teil unserer vergangenheit und geschichte her. sie erschliessen mir einen teil der welt, zu dem ich zu der zeit noch lange keinen zutritt hatte und zu der ich in der form auch heute keinen zugang haben werde.
sie war eine emanzipierte frau und wollte nie ‚emanze’ genannt werden (so ist es überliefert. ob das stimmt kann ich nicht nachprüfen).

herzlichen glückwunsch für GISÈLE FREUND zum 100sten geburtstag. sie wird ihn erhalten – da bin ich mir sicher.