„ich habe es nie aufgegeben, erfahren zu wollen, was sich hinter einem gesicht verbirgt.“
giséle freund
foto: tom fecht
ein gesicht ist ein geheimnis. was sich hinter einem gesicht verbirgt und es erkennen zu können, ein noch viel größeres.
physiognomische festlegungen gibt es zwar allzu deutliche und in einer großen vielzahl, die helfen aber nicht weiter. das allein kann nicht ausschlaggebend sein.
kürzlich habe ich eine schulfreundin aus der grundschulzeit wiedererkannt – und das ist immerhin über 70 jahre her – und ich rätsele, was es ist, das mich menschen, denen ich einmal begegnet bin, in meinem gedächtnis speichere. welcher teil von einem gesicht bleibt mir. man sagt, die augen. aber es gibt ja noch so viel anderes. vielleicht stimme, vielleicht gestik, vieleicht bewegung oder etwa etwas ganz anderes. ob ich dem auf die spur komme, oder nicht – es bleibt auch mir ein geheimnis.
es war kein einzelfall. bedingung ist nur, dass ich mit den menschen zu tun gehabt haben muß – verbindungen reißen vielleicht nie ganz ab.
bei der jüngeren generation, die sich kosmetisch verunstaltet, so dass es ein eigentliches gesicht nicht mehr gibt – und ach ja, sonnenbrillen riesig schwarze, welche die augen nicht zu erkennen geben – da stehe ich ratlos da.
vor einiger zeit auf einem gang durch die aue traf ich eine frau, sprach auch eine weile mit ihr. und bei einer wiederbegegnung kurze zeit danach, erkannte ich sie nicht – sie trug eine große schwarze sonnenbrille bei unserer ersten begegnung.
eindruckvolle gesichter sind sowieso rar geworden. alle versuchen jünger auszusehen. männlein wie weiblein täuschen ein jugendliches aussehen vor und laufen sich die lunge aus dem hals. dass sie vor sich selbst davonlaufen, kommt ihnen nicht in den sinn.
zu weit abgeschwiffen – aber es gehört zum thema.
in letzter zeit fällt mir an mir selbst auf, dass ich in einem gesicht lesen kann und je deutlicher ich das erlebe, desto mehr kommt mir in den sinn, dass das mit dem, was ich herauszulesen glaube, nicht stimmen kann. vielleicht ist es ein wiedererkennen, aber kein erkennen. und menschen lassen sich nicht durchschauen. eben sind sie so – und dann wieder ganz anders…
ein gesicht ist und bleibt ein geheimnis.